BEGRÜNDUNG DER MODERNEN PSYCHOLOGISCHEN ASTROLOGIE

nach Dane Rudhyar (1895-1985)

 
 
1. Teil: Carl G. Jung und die Definition der Psyche
                                                   (Bewusstsein/Unterbewusstsein)
 
 
Der ständig wiederkehrende Rhythmus (Wechselwirkung zwischen Individualität und Kollektivität (yin+yan) = Bildung der Persönlichkeit (Tao)) kommt in der Astrologie vor allen Dingen in der Symbolik des Tierkreises zum Ausdruck, welche auf der in Deklinationen gemessenen jährlichen Pendelbewegung der Sonne beruht; In Hinsicht auf das Geburtshoroskop wird der Dualismus von individueller Bewusstseinstruktur und von den Faktoren des kollektiven Unbewussten durch folgende Unterscheidung dargestellt: einerseits durch die Planeten des Sonnensystems bis einschließlich Saturn und andererseits durch die später entdeckten äußeren Planeten, also Uranus, Neptun und Pluto. Die ersten werden als ‚Planeten des Bewussten’ und die zweiten als ‚Planeten des kollektiven Unbewussten’ bezeichnet. –
…Im Kontrast zu Sigmund Freuds Bild der Unbewusstheit als einem Fegefeuer oder einer Hölle von unterdrückten und bösartigen oder sexuellen (Triebkraft = Libido) Inhalten, präsentiert Carl G. Jung das Unbewusste als ein ermessliches Reich psychischer Energie, aus welchem das bewusste Ich emporsteigt. Dieser Vorgang, den Jung ‚Individuation’ nennt, kann mehr oder weniger erfolgreich und kreativ vollbracht werden; das psychische Material, welches das Ich während seiner Lebensspanne bewältigt hat, kehrt nach dem Tode normalerweise wieder in das kollektive Unbewusste zurück. In gewissem Sinn ist dieses der Ur-Ozean des menschlichen Seins, der Nährboden all dessen, was im lebenden Menschen an Wünschen, Gefühlen, Gedanken, Intuitionen und Sehnsüchten entsteht. In anderer Hinsicht bildet es das kollektive Sammelbecken, in welches alles einfließt, was Menschen zur Zivilisation beigetragen haben oder jemals beisteuern werden, sei es positiv oder negativ. –
Was das Unbewusste ist wissen wir nicht mit Bestimmtheit, denn sonst würde es aufhören, unbewusst zu sein. Bewusst oder halbbewusst spüren wir lediglich, dass wir uns dem Eintritt von gewissen Gedanken, Gefühlen, Impulsen, Erkenntnissen und Intuitionen in den Bereich unseres Bewusstseins widersetzen. Aber warum leisten wir gegen diese verborgenen Seeleninhalte Widerstand? Vielleicht, weil sie an sich schon destruktiv sind, giftiger Abfall unseres ‚ungelebten Lebens’; es kann aber auch sein, dass sie einen Ruf nach einem größeren, erfüllteren und spirituellerem Leben darstellen – und dass unser Ego sich aus Furcht und Trägheit weigert, ihnen Einlass zu gewähren. Mit anderen Worten, die unbewussten Inhalte unserer Seele sind jene, die das Ego nicht erkennen will, oder aber jene, welche ein weiteres Wachstum der Ichstärke und der verfestigten Einflüsse von bewussten und rationalen Anteilen unseres inneren Wesens herausfordern. Folglich erscheint das Unbewusste oberflächlich betrachtet als der Gegenspieler des Bewusstseins. Jedoch sind beide – und dies ist ein ganz wesentlicher Punkt – die zwei Hälften der Psyche.
Jung sagt hierzu: „Die Psyche besteht aus zwei inkongruenten Hälften, die zusammen ein Ganzes bilden sollten. Bewusstsein und Unbewusstsein ergeben kein Ganzes, wenn das eine durch das andere unterdrückt und geschädigt wird. Wenn sie einander schon bekämpfen müssen, dann möge es wenigstens ein ehrlicher Kampf mit gleichem Recht auf beiden Seiten sein. Beide sind Aspekte des Lebens. Das Bewusstsein sollte seine Vernunft und seine Selbstschutzmöglichkeiten verteidigen, und das chaotische Leben des Unbewussten sollte auch die Möglichkeit haben, seiner eigenen Art zu folgen, soviel wir davon ertragen können. Dies bedeutet offenen Kampf und offene Zusammenarbeit in einem. So sollte offenbar das menschliche Leben aussehen. Es ist das alte Spiel von Hammer und Amboss: Das leidende Eisen zwischen beiden wird zusammengeschmiedet zu einem unzerstörbaren Ganzen, und zwar zum ‚Individuum’. Dies ist ungefähr, was ich den ‚Individuationsprozess’ nenne.
 
 
Somit ist die Persönlichkeit (= eine geordnete, ausbalancierte Gesamtheit menschlicher Erfahrungen und psychischer Inhalte, seien sie bewusst oder unbewusst) durch den nicht abgegrenzten ‚Kanal’ des universellen Unbewussten unaufhörlich offen für Expansion und Wachstum. Das fundamentale Wachstum ergibt sich aus der ‚gegenseitigen Durchdringung’ von Bewusstsein und Unbewusstsein, dem Vermischen von rationaler Ordnung mit irrationaler Lebensenergien. Diese polaren Gegensätze müssen in der Erfahrung des Individuums ausgesöhnt werden; sie müssen in eine vibrierende und pulsierende Ganzheit der Persönlichkeit eingegliedert werden, und in dieser Persönlichkeit darf keine Funktion unterdrückt oder unterbewertet werden, sondern jede muss den ihr angemessenen Platz in dem Aufbau eines sich immer ausweitenden Ganzen einnehmen. In diesem Wachstumsprozess lernt der einzelne zu erkennen, dass er nur durch seine Teilnahme an den Aktivitäten der Gesellschaft und evtl. durch seine Teilhabe an der universellen Ganzheit höchste Bedeutung erlangt. Anstatt lediglich aus seinem bewussten Mittelpunkt, dem Ego, heraus zu wirken, bewegt er sich regelmäßig und gelassen weiter und handelt aus dem Kern der integrierten Totalität des Seins heraus, welches Jung ‚das Selbst’ nennt. Jacobi zu Jung dazu: „Das Selbst ist aber auch eine psychische Kategorie, als solche eben erlebbar, und wenn wir aus der psychologischen Sprache heraustreten, so dürfen wir es auch ‚das zentrale Feuer’, unseren individuellen Anteil an Gott oder das ‚Fünkchen’ Meister Eckeharts nennen. Es ist das urchristliche Ideal vom Reich Gottes, das ‚inwendig in Euch ist’. Es ist das letzte Erfahrbare in und von der Psyche“.
In der klassischen Psychologie ist Persönlichkeit eindeutig mit dem Bewusstsein verflochten; aber Freud versuchte, die bislang als gesichert angenommene Einheit der Persönlichkeit (man nahm im 18. Jahrhundert an Verstand und Gefühl ‚gehörten’ einem, die psychischen Kräfte zur Entwicklung moralischer Wertigkeiten seien von Gott gegeben und angeboren, andernfalls, bei Verlust des geistigen Gleichgewichts, würde man ‚freiwillig’ auf die göttlichen Anlagen verzichten und sich animalischen oder teuflischen Mächten verschreiben.) auf instabile Bestandteile, unterbewusste Energien, psychische Mechanismen, Komplexe und hoffnungslose Sehnsüchte nach unerreichbarer Vollkommenheit zu reduzieren. Alfred Adler wirkte Freuds Ansatz entgegen, indem er die Einheit der Persönlichkeit herausstrich, das Ego mit der Persönlichkeit gleichsetzte, und unbewusste Faktoren im Seelenleben als zurückgebliebene und giftige Nebenprodukte einer unwirksamen und unvollständigen Anpassung an Leben und Gesellschaft abtat – eine Anpassung, die von dem permanenten Machthunger und Überlegenheitsstreben des Menschen kontrolliert wird.
Studieren wir Jungs Psychologie näher, dann stellen wir fest, dass seine Vorstellung von Persönlichkeit sehr breitangelegt und umfassend ist: Persönlichkeit ist ein sich entwickelnder Organismus, dessen Ganzheit und Ausgeglichenheit nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden sollte, sondern stattdessen als das wesentliche (aber schwer zu erlangende) Lebensziel des Individuums angesehen werden muss. Die Integration der Persönlichkeit ist nicht nur ein komplexer und anstrengender Prozess; sie hat kein begreifbares Ende (Karma-Wiedergeburt?!), weil die Persönlichkeit vorwiegend das Ergebnis von gegenseitigem Durchdringen, Harmonisieren und dem Zusammenschluss zweier deutlich verschiedener und entgegengesetzter (jedoch sich ergänzender) Faktoren im Seelenleben des Menschen darstellt. Diese Faktoren stehen entweder in Bezug zum Bewusstsein und dessen Kontrollinstanz (dem Ego) oder sie gehören in den Bereich des Unbewussten. Da das Unbewusste keine erkennbare Grenzlinie hat, sondern sich theoretisch ad infinitum in Richtung auf eine immer breitere Erfahrung des Universums ausdehnt, folgt daraus, dass keine festgesetzten Grenzen auf den Umfang der Persönlichkeit angelegt werden können. Der Bewusstseinsraum kann immer die Gesamtheit der zuvor unbewussten Inhalte umfassen.
C. G. Jung dazu: „… muss erwähnt werden, dass, wie der menschliche Körper über alle Rassenunterschiede hinaus eine gemeinsame Anatomie aufweist, auch die Psyche jenseits aller Kultur – und Bewusstseinsunterschiede ein gemeinsames Substrat besitzt, das ich als das kollektive Unbewusste bezeichnet habe. Diese unbewusste Psyche, die aller Menschheit gemeinsam ist, besteht nicht etwa aus bewusstseinsfähigen Inhalten, sondern aus latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen. Die Tatsache des kollektiven Unbewussten ist einfach der psychische Ausdruck der Identität der Gehirnstruktur jenseits aller Rassenunterschiede. Daraus erklärt sich die Analogie, ja sogar Identität der Mythenmotive (bzw. Archetypen) und der Symbole und der menschlichen Verständigungsmöglichkeit überhaupt. Die verschiedenen seelischen Entwicklungslinien gehen von einem gemeinsamen Grundstock aus, dessen Wurzeln in alle Vergangenheiten hinunterreichen. Hier liegt sogar der seelische Parallelismus mit dem Tier. Es handelt sich – rein psychologisch genommen – um gemeinsame Instinkte des Vorstellens (Imagination) und des Handelns. Alles bewusste Vorstellen und Handeln hat sich über diesen unbewussten Vorbildern entwickelt und hängt mit ihnen stetig zusammen.
 
Zweifellos geht das Bewusstsein ursprünglich aus dem Unbewussten hervor. Daran denken wir zuwenig und deshalb machen wir immer Versuche, die Psyche überhaupt mit dem Bewusstsein zu identifizieren.
Die Trennung von Seele und Körper ist eine künstliche Operation, eine Diskrimination, die sicher weniger im Wesen der Dinge als vielmehr in der Eigentümlichkeit des erkennenden Verstandes begründet ist. So innig in der Tat ist die gegenseitige Durchdringung der körperlichen und seelischen Kennzeichen, dass wir aus der Beschaffenheit des Körpers nicht nur weitgehend auf die Beschaffenheit der Seele (Typenlehre), sondern auch aus der seelischen Besonderheit auf entsprechende körperliche Erscheinungsformen schließen können.
Es ist für den Abendländer charakteristisch, dass er zu Erkenntniszwecken Physisches und Geistiges auseinandergerissen hat. In der Seele liegen aber diese Gegensätze beisammen. Das muss die Psychologie anerkennen. ‚Psychisch’ ist physisch und geistig.
 
Die Seele als ein selbstregulierendes System ist balanciert wie das Leben des Körpers. Für alle exzessiven Vorgänge treten sofort und zwangsläufig Kompensationen ein, ohne sie gäbe es weder einen normalen Stoffwechsel, noch eine normale Psyche. In diesem Sinne kann man die Kompensationslehre als eine Grundregel für das psychische Verhalten überhaupt erklären. Das Zuwenig hier erzeugt ein Zuviel dort. So ist auch das Verhältnis zwischen Bewusst und Unbewusst ein kompensatorisches.
 
Ohne Bestimmtheit, Ganzheit und Reifung wird keine Persönlichkeit offenbar.
 
Schließlich und am Ende ist auch der Held, Führer und Heiland jener, welcher einen neuen Weg zu höherer Sicherheit entdeckt. Man könnte ja alles beim alten lassen, wenn dieser neue Weg es nicht unbedingt verlangte, entdeckt zu werden und die Menschheit nicht mit allem Plagen Ägyptens solange heimsuchte, bis der neue Weg gefunden ist.
Der unentdeckte Weg in uns ist wie ein psychisch Lebendiges, das die klassische chinesische Philosophie ‚Tao’ nennt und einem Wasserlauf vergleicht, der unerbittlich sich zu seinem Ziele bewegt. Im Tao sein, bedeutet Vollendung, Ganzheit, erfüllte Bestimmung, Anfang und Ziel und völlige Verwirklichung des den Dingen eingeborenen Daseinssinnes. Persönlichkeit ist Tao.“
2. Teil: Dane Rudhyar (Begründer der humanistischen Astrologie) und das
Geburtshoroskop im Spiegelbild der Psychologie
 
 
Die dargelegten Inhalte rufen die Gründe ins Gedächtnis zurück, warum die von der astrologischen Tradition angewandten Techniken für das Individuum, welches versucht, den schwierigen Pfad der Integration seiner Persönlichkeit zu beschreiten, von besonders praktischem Nutzen sein können – vorausgesetzt, diese astrologischen Techniken werden auf neue Weise benützt, nämlich so, dass sie direkt auf die Erlangung einer positiven, eindeutigen, erfüllten und reifen Persönlichkeit gerichtet werden.
 
Astrologie ist ein Mittel das zur ‚Selbstverwirklichung’, als eine starke Hilfe im ‚Prozess der Individuation’, verwendet werden kann; das bedeutet für den Werdeprozess, für die Wirklichkeit und für die Fülle des bewussten Lebens, dass das, was man zum Zeitpunkt der Geburt ist, nur eine Möglichkeit darstellt. Individualität (d.h. strukturierte Einmaligkeit des Seins) ist potentiell oder latent in jedem neugeborenen Kind angelegt. Sie wird aber nur dann in die Realität verwandelt, wenn sich ‚jung und alt stetig und gleichmäßig darum bemühen, innere Reife zu erlangen’. Was die Astrologie zu einer größeren Erfolgsquote dieser Anstrengungen beitragen kann ist folgendes: sie kann der Möchtegern-Persönlichkeit oder dem verwirrten älteren Menschen, der die Last vieler Enttäuschungen trägt, die ‚Blaupause seiner Individualitätsstruktur’ vor Augen führen. Mit anderen Worten, die Astrologie zeigt also der sich entwickelnden Persönlichkeit, die vielleicht im Dunklen tappt oder psychisch unreif ist, den Archetyp ihrer latent vorhandenen Individualität – das was sie sein wird, wenn sie zu dem wird, was sie potentiell ist.
 
ASTROLOGIE BEFASST SICH NUR MIT DEN ENTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN,
NIEMALS MIT EINDEUTIGEN UND SCHICKSALSTRÄCHTIGEN EREIGNISSEN.
 
Jung verwendet ständig den Begriff ‚Archetypus’ und so, wie er diesen definiert, ist er von großer Bedeutung für den Astrologen, der die richtige psychologische Deutung in dem Geburtshoroskop – einem Archetyp ganz besonderer Art – auswerten möchte. Archetypen sind in Jungs Philosophie Brennpunkte oder Kraftfelder des kollektiven Unbewussten; das heißt, sie sind Abbilder, welche die fundamentalsten Handlungen dessen, was wir ‚gesamtmenschliche Erfahrung’ nennen, festlegen und kontrollieren. Sie bezeichnen die ursprünglichsten Grundreaktionen und Grunderlebnisse des psychischen Erfahrungsschatzes der Menschheit; und sie erscheinen als symbolische Bilder in unseren Träumen, aber auch in allen Mythen und religiösen Vorstellungen. Von diesen Dominanten des Unbewussten geht eine
enorme Kraft aus.
Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass nur ihre Form, aber nicht ihr Inhalt festgelegt ist; dass der innerste Kern ihrer Bedeutung abgegrenzt, aber niemals beschrieben werden kann.
Wenn ein Träumer von einer mysteriösen und mit kosmischen Attributen versehenen Mutterfigur träumt, oder wenn ein inspirierter Künstler solch eine Figur malt, dann ist das so entstandene Bild in Wirklichkeit keine Schöpfung des Träumers oder Malers als Individuum. Das Urbild liegt schon in seinem Unbewussten verborgen, so wie das Blattmuster der Eiche schon in der Eichel angelegt ist. Der Archetypus verfügt somit gewissermaßen über eine Art objektives Sein in einem unbewussten Reich der Möglichkeiten, welches sich mit dem vergleichen lässt, was Goethe im zweiten Teil des Faust als das ‚Reich der Mütter’ bezeichnete. Tatsächlich gibt Jung klar zu verstehen, dass ‚das Unbewusste die Mutter des Bewusstseins’ ist.
Auch Okkultisten haben beinahe im gleichen Sinne vom Reich des ‚Astrallichts’ gesprochen, welches in seiner höheren Ausprägung kreativ und in seinen niedrigen Bereichen reflektierend ist. Sie haben auch die Ausdrücke ‚Anima Mundi’ (Weltenseele) und ‚Jungfrauen des Lichts’ verwendet. Der letztere Begriff bezog sich dabei auf die Zeichen des Tierkreises, die man für die symbolhafte Äußerung der großen ‚kreativen Hierarchien’, die Erschaffer des Universums und der Gattung Mensch, hielt.
Jung bezeichnet die Archetypen des Unterbewussten auch als ‚Organe der Seele’. Diese Organe der Seele sind jedoch Konzentrate der gemeinsamen Erfahrung seit Myriaden von Menschheitsgenerationen. Sie sind der Menschheit so angeboren wie die Instinkte den Tieren, und zwar allen Menschen. Instinkte und Archetypen sind miteinander verwandt, d.h. archetypische Vorstellungen sind gewissermaßen zu Bild gewordene psychische Instinkte. Die Anzahl der Archetypen bildet den eigentlichen Inhalt des kollektiven Unbewussten. Sie ist relativ begrenzt, denn sie entspricht ‚den Möglichkeiten typischer Grunderlebnisse’, die das menschliche Wesen seit jeher erfahren hat… Die Summe der Archetypen bedeutet also für Jung die Summe aller latenten Möglichkeiten der menschlichen Psyche: ein ungeheures, unerschöpfliches Material an uraltem Wissen um die tiefsten Zusammenhänge zwischen Gott, Menschen und Kosmos. Dieses Material in der eigenen Psyche zu erschließen, es zu neuem Leben zu erwecken, und dem Bewusstsein zu integrieren, heißt darum nicht weniger, als die Einsamkeit des Individuums aufzuheben und es einzugliedern in den Ablauf des ewigen Geschehens…
 
Die symbolische Bedeutung des persönlichen Grundhoroskopes, welches für den genauen Moment und Ort der Geburt erstellt wurde, liegt tatsächlich darin, dass es, insofern es um seinen psychologischen Wert geht, einen Archetypus vom Unbewussten des Betreffenden darstellt. Das Horoskop ist vielleicht sogar der stärkste aller verfügbaren Archetypen, sobald er ins Licht des Bewusstseins gerückt wird – nämlich in Anbetracht der Tatsache, dass es das Verhalten des Individuums, seine Einstellung zu sich selbst und seiner Lebensführung, aber auch die Qualität seiner Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Ereignisse und seines Gesamtschicksals festlegen kann.
Das Geburtsbild ist ein Symbol von außergewöhnlicher Kraft, und es öffnet dem Menschen die Pforte, um seinen Platz im ‚großen Lebensstrom’ vom Standpunkt eines archetypischen Ordnungsmusters her zu finden. Denn dieses Sinnbild basiert auf dem ursprünglichen Himmelserleben der Menschheit, der wunderbaren Erkenntnis einer transzendenten Ordnung inmitten eines Lebens voll irdischen Chaos. Durch das Kreisen unaufhörlich am Himmel sich bewegender Punkte und Lichtscheiben, wird diese Ordnungsschablone dem Menschen tatsächlich allgegenwärtig. Es liegt an ihm, sie zu betrachten. Das Geburtshoroskop zu untersuchen bedeutet, die Struktur des Himmels an der Wurzel des eigenen Seins zu entdecken. Es heißt die besondere Phase der Anima Mundi (der Weltenseele, der Großen Mutter) herauszufinden, die zur Gussform wurde, in welche die generische und kollektive menschliche Wesensart geschüttet wurde, während das Individuum als atmendes und neugeborenes Kind in die Welt von Luft und Licht entstieg.
Der Augenblick des ersten Atemzuges ist das große Symbol für den Individualisierungsakt, durch den sich die ungeborene menschliche Natur aus der ‚dunklen Mutter’ (der Gebärmutter der Erde) erhebt, und anfängt, im Reich der ‚himmlischen Mutter’ zu handeln. Der Mensch atmet; und durch diesen Vorgang des Atmens ist der Mensch der sinnbildliche Archetyp seines individualisierten Daseins. Es steht im frei, sein Atmen zu verändern, und durch die Kraft des Atems, welcher auch die Kraft des geäußerten Wortes ist, kann der Mensch sich als Individuum und Meister beweisen, oder sich selbst zu einem fruchtlosen und vereitelten Leben verdammen.
Astrologie war und ist das Mittel, um den ersten Moment der individualisierten Freiheit (den ersten Atemzug) mit dem ‚ewigen kosmischen Prozess’ in Beziehung zu setzen.
Das Geburtshoroskop, sehen wir darin ein Symbol für die verwurzelte Teilnahme des Individuums am universellen Prozess, kann dem Geborenen enthüllen, was er von Natur aus ist, und was er erreichen kann, wenn er gemäß dieses ‚Gesetzes’ seines individuellen Seins lebt.
Das Horoskop kann als ein dynamisches und kreatives Ganzes betrachtet werden, als eine Aufforderung zur Integration oder aber als eine Ansammlung fragmentarischer Informationshäppchen über die gängigsten Hauptbeschäftigungen der Menschen (Wohlstand, Heim, Liebesaffären, Gesundheit, Heirat, Geschäft, Erfolg usw.). Die traditionelle und herkömmliche Praxis der Astrologie befasst sich mit der zweiten Thematik. In der Regel sucht der Astrologe dann nach Informationen über vergangene oder zukünftige Ereignisse, oder Wissen über zerstückelte Charaktermerkmale des Klienten. Astrologie erfüllt in diesem Falle keine psychologisch integrative Absicht – vornehmlich deswegen, weil sowohl Astrologe als auch Klient diesen Zweck überhaupt nicht erwarten. Die meisten Menschen nähern sich der Astrologie generell auf die gleiche Art, wie sie auch an Traumgegenstände herangehen: auf unorganisierte, dilettantische und bruchstückhafte und unter Umständen ungesunde Weise. Jeder, der erwartet, dass die Symbole des Traumes oder des Horoskopes ihn zu einer vollkommeneren, gefestigteren und reiferen Persönlichkeit führen sollen, muss eine ernsthafte und verantwortungsvolle Haltung einnehmen. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Berührung mit den Archetypen des Unbewussten oder den himmlischen Strukturen des Geburtsmoments dem Betreffenden einen ergiebigen und gelassenen Zustand persönlicher Erfüllung bringen kann, dass dieser Kontakt aber genauso bloß auf dünne psychologische Ergebnisse beschränkt bleiben könnte.
Das Geburtshoroskop unterscheidet sich in der Tat beträchtlich von einer rein wissenschaftlichen Berechnung von Einzelfaktoren. Wenn man es untersucht und ihm lebendige Aufmerksamkeit schenkt, dann wirkt er als eine dynamische Kraft im Unbewussten. Er ‚macht’ gewissermaßen etwas. Er zwingt Neigungen in das Bewusstsein (und erwirkt dadurch Ereignisse), die ansonsten verborgen geblieben wären. Jeder, der an die Wichtigkeit des Geburtsbildes und den Wert von dessen Interpretation glaubt, ist nicht mehr länger die gleiche Person. Seine Orientierung am Unbewussten wurde verändert, und wenn auch noch so geringfügig. Dies nicht wahrhaben zu wollen, kommt einem Spiel mit dem Feuer gleich, denn die Orientierung am Unbewussten ist der stärkste Faktor in der Persönlichkeit.
 
Wir leben in einer explosiven Zeit, in einer globalen Krise der menschlichen Entwicklung, was uns alle dazu auffordert, neue Verantwortlichkeiten zu übernehmen und bedächtig neuen Gefahren ins Auge zu sehen, im Namen einer kollektiven Bestimmung, welche wir nicht mehr länger ignorieren können. Dies ist das Jahrhundert der globalen Integration, ob wir unter ‚global’ nun den Planeten Erde verstehen oder die Sphäre von Gesamtpsyche, Körper und Geist. Wir müssen deswegen in der Persönlichkeit wie auch in der Gesellschaft einen Pfad der völligen Integration finden. Und wir müssen gewillt sein, Risiken zu akzeptieren, oder wir verlieren unsere Menschlichkeit. Denn Menschsein heißt, bewusst ganz und vollkommen zu sein; es verlangt von uns, ein Mikrokosmos zu sein, ein Brennpunkt für die Bedeutung und Kraft, welche innerhalb dem riesigen Organismus des Makrokosmos, dem universellen Ganzen, liegt.